Mittagsstunde

Land: Deutschland 2022  Laufzeit: 97 min.  Regie: Lars Jessen  Mit: Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Lennard Conrad, Rainer Bock  Label: Majestic  VÖ: 9.3.2023  FSK: 12 – Ein Beitrag von Georgios Tsapanos:

© Majestic

Derzeit vergeht kaum eine Fußballübertragung, in der nicht früher oder später vom Unterschiedsspieler die Rede wäre. Ein schöner Begriff, ans falsche Genre vergeudet. Denn wenn die Unterschiedsspieler irgendwo wirklich den Unterschied machen, dann bei den darstellende Künsten. Solch ein Unterschiedsspieler aus deutschen Gefilden ist ohne jeden Zweifel der 1972 geborene Charly Hübner. Wer das noch nicht erkannt hat, muss sich nur die Polizeiruf 110 Folgen mit ihm als Alexander Bukow, beginnend mit „Einer von uns“ (2010) bis zu „Keiner von uns“ (2022) anschauen und sie mit denen vergleichen, in denen Anneke Kim Sarnau als Katrin König seitdem allein weitermachen muss.

Oder sich Lars Jessens „Mittagsstunde“ (2022) ansehen, falls man nicht bereits zu den 300.000 gehört, die der Film im letzten Jahr in die Arthouse-Kinos gelockt und ihnen damit den größten Hit des Jahres beschert hat. Die Verfilmung des zweiten Romans der Bestseller-Autorin Dörte Hansen („Das alte Land“) ist ein melancholischer Heimatfilm, eine staubtrockene Komödie und ein einfühlsames Psychogramm einer Familie, eines Dorfes und seiner Menschen sowie einer Gegend, die es so nicht mehr gibt – stets abhängig davon, in welcher Zeitebene Handlung und Personal sich gerade befinden.

Katalysator des Geschehens ist Charly Hübners Ingwer Feddersen, der eines Morgens verkündet nach Brinkebüll zu fahren und erstmal nicht wieder zurückkommen zu wollen. Brinkebüll (überzeugend verkörpert von Sollerup, zwischen Husum und der A7 gelegen) ist sein Heimatdorf, in dem seine Eltern noch leben. Sie sind auch der Grund für Ingwers Reise in die eigene Vergangenheit.

Selbst dem ungeübten Auge fällt sofort auf, dass Regisseur Jessen nach einer eigenen, einer filmischen Erzählweise für Dörte Hansens Prosa gesucht hat. Gleich zu Beginn führt er seinem Publikum die doppelte Tragödie, von denen er gleich ausgiebiger erzählen wird im Zeitraffer und wie unter einem Brennglas vor.

1965. Ein Mädchen, vielleicht schon eine junge Frau kommt aus einer Kneipe. Es ist Marret Feddersen, aber das wissen wir da noch nicht. Sie läuft in ein Feld, raucht, schaut in den Himmel. Goethe kommt einem in den Sinn. „Verweile Augenblick, du bist so schön“. Aber er verweilt nicht, der Augenblick. Einen Schnitt später ist es schon 1976. Marret vor dem Kaufmannsladen, in dem es zugeht wie heute beim Discounter. Sie ist, der Film macht uns erst jetzt darauf aufmerksam, nicht ganz bei sich. Was aber in der Stadt „verrückt“ heißen würde, ist den Dörflern egal. Die Marret ist halt die Marret und so wie sie ist. Kein Grund ein großes Gewese darum zu machen. Später wird Marret verschwinden. Aber nicht spurlos.

Wir schreiben 2012. Sönke Feddersen – er betreibt die Kneipe vom Anfang – ist alt. Seine Frau Ella ist Dement. Deshalb will Ingwer zurück ins Dorf, aus dem er mal geflohen ist, in die große Stadt (gemeint ist Kiel), was ihm sein Vater nie verziehen hat.

Ab da werden sich die Bilder mehr Zeit nehmen, die Montage atmet aber gerade weil sie den Wechsel der Zeitebenen als Stilprinzip beibehält weiter eine gewisse unerbittliche Dringlichkeit, die vor allem in der Darstellung des Strukturwandels, der über das Dorf fällt wie ein Schwarm Heuschrecken über ein frisch bestelltes Feld die Grenze zur Brutalität absichtlich streift. Nach diesem Film wissen auch die Nachgeborenen, welche nicht nur landwirtschaftliche Katastrophe sich hinter dem scheinbar harmlos-technischen Begriff Flurbereinigung verbirgt.
Gleichzeitig gelingen Jessen regelrecht rührende Bilder, was es bedeutet nach Hause zu kommen, such wenn dieses zu Hause seltsam entrückt wirkt. Ingwer erkennt Straßen und Menschen wieder, und zugleich auch wieder nicht, als wäre er unfähig aus einem Traum zu erwachen, der jeden Augenblick in einen Albtraum umschlagen kann. Man fragt sich unwillkürlich, ob Jessen Nicholas Rays „The Lusty Men“ (1952) kennt, so sehr erinnern diese Szenen an Robert Mitchums Rückkehr in die Heimat, die sich im Wissen um verborgene Dinge offenbart.

„Mittagsstunde“ ist ein spektakulär-unspektakulärer Heimatfilm geworden, der die Menschen und die Gegend im Norden selbst da noch achtet, wo kleinere Geister der Versuchung der Persiflage erlegen wären. Jessen verwebt nicht nur die Zeitebenen ineinander, sondern auch das „kleine“ große Drama der Familie Feddersen mit den Zeitläuften um sie herum, wobei die Blicke, die Vater und Sohn austauschen seitenweise Dialog abräumen.
Apropos Dialog: Von „Mittagsstunde“ gibt es eine Originalfassung mit deutschen Untertiteln. In dieser Version reden die Menschen friesisch Platt und der Dialekt unterstreicht noch mehr wie aufregend dieser auf den ersten Blick so unaufgeregt wirkende Film geraten ist. Unbedingte Guckempfehlung (nicht nur für Nordlichter).

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