Land: USA 2022 Regie:William Brent Bell Dauer: 96 min. Mit: Isabelle Fuhrman, Julia Stiles, Rossif Sutherland, Hiro Kanagawa, Matthew Finlan Label: Studiocanal VÖ: 26.1.2023 FSK: 16 – Von Georgios Tsapanos
Sequels, also zweite Teile, sind eine zwiespältige Angelegenheit. Selten verdanken sie ihre Existenz künstlerischer Notwendigkeit. Eher schon dem Wunsch der Produzenten aus einem einmal erfolgreichen Stoff nochmals Honig zu saugen. Die Annahme: Wem der erste Teil gefallen hat, wird sich hoffentlich auch den zweiten anschauen. Das Problem: Wer schon den ersten Teil nicht gesehen hat, wird sich allein den zweiten eher nicht antun. Die Lösung: Statt eines Sequels wird ein Prequel präsentiert, also die Vorgeschichte des ersten Teils, also praktisch ein neuer Film, also einer, der praktischer Weise die Kenntnis des ersten nicht voraussetzt.
Fangen wir vorne an: „Orphan“ kam 2009 in die Kinos und es wird eine der großen Ungerechtigkeiten bleiben, dass dieser wirklich schamlos-effektive Horror-Streifen nicht bekannter ist. Die großartige Vera Farmiga übte als Adoptivmutter schon mal für „The Conjuring“ (2013) und erinnert uns daran, dass „Up in the Air“ nicht der einzige Film war, den sie sich 2009 unter den Nagel gerissen hatte. Und Isabelle Fuhrman als Waisenkind Esther definiert das sowieso schon spezielle Rollenfach „böses Kind“ vollkommen neu. Während Regisseur Jaume Collet-Serra – ein versierter Handwerker, der danach zu so etwas wie Liam Neesons Action-Hausregisseur zu werden drohte – aber auch jeden Trick in den Ring wirft, um „Orphan“ zu einer Angelegenheit werden zu lassen, die in jeder nur denkbaren Weise nichts für Kinder ist.
Dass nun ausgerechnet Esthers Story 13 Jahre später noch einmal aufgegriffen würde, hätten sich wohl auch die hartgesottensten Orphan-Fans nicht träumen lassen. Dass man angesichts des Zeitablaufs dabei nochmals Isabelle Fuhrman bitten würde, ihr jüngeres Selbst zu geben, wahrscheinlich noch viel weniger. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu „Orphan“ war Fuhrman elf. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu „Orphan: First Kill“ 24. Wer gedanklich über diese Klippe kommt, den wird auch ansonsten nichts weiter erschüttern.
Vor allem nicht William Brent Bells Regie, der sich wahrscheinlich selbst nicht beschweren würde, würde man sie uninspiriert nennen. Allerdings scheint ihm jemand erzählt zu haben, dass die Horror-Fans der 2020er Jahre mit den Regeln des Genres nicht erst seit Wes-Cravens „Scream“-Reihe nicht nur bestens vertraut sind, sondern sie den Wert eines Streifens auch danach bemessen, wie geschickt er diese Regeln auf den Kopf zu stellen vermag, ohne sie dabei aber der Lächerlichkeit preis zu geben.
Daher wartet „Orphan: First Kill“ mittendrin mit einer Wendung auf, die zum einen so gaga ist, dass sie beinahe die Lebenszeit vergilt, die man bis dahin verschwendet hat, zum anderen an dieser Stelle aber natürlich nicht verraten werden darf. Dieser twist from hell und Julia Stiles in der Farmiga-Rolle versöhnen den kundigen Horror-Aficionado (beinahe) mit dem Streifen. Der Verleih hatte aber die nicht dumme Idee, den neuen auch gemeinsam mit dem ersten Teil heraus zu bringen. Hier gilt es zuzugreifen. „Orphans: First Kill“ kann man sehen. „Orphans“ muss man gesehen haben.